In den Niederungen des Erhabenen

Zum Alltagsmythos am Beispiel Mozarts

Kinder brauchen Märchen, Erwachsene brauchen Mythen.
So wie die Märchen sind auch die Mythen verschlüsselte Ideologien.
Während das Märchen hauptsächlich der Erziehung und der Einführung in die Realität dient, ist der Mythos ein Mittel der Rechtfertigung und des richtigen Glaubens.
Mythen bewohnen jenen Raum, der sich aus dem Auseinanderklaffen von Realität und Wahrheit öffnet.
Über den Mythos schafft sich der Geist einen Brückenschlag vom Wissen um die Wirklichkeit zum unmöglichen Wissen der letzten Wahrheiten.
Da sich der Mythos der Einbildungskraft bedient, kann man auch sagen, dass er ein wissenschaftliches Märchen ist.
Der Mythos reicht dorthin, wo das Reden sein Ende findet, weil es noch nicht begonnen hat oder weil es abgeschnitten worden ist. Er situiert sich vor und nach der Geschichte und verbindet daher das Historische mit dem Prae- und Posthistorischen.
Deshalb sind die großen Mythen so häufig Ursprungs- und Endmythen und stellen Erklärungsversuche für jene kollektiven und individuellen Zustände dar, wofür es uns an subjektiver Erfahrung fehlt.
Der Mythos verwandelt Metaphysik in Metapsychologie, denn er verleiht dem, was außerhalb der möglichen menschlichen Erkenntnis liegt, menschliche Züge. Dies gilt sowohl für die Entstehung und das Ende der Welt als auch für das Werden und Vergehen des menschlichen Subjekts.
Das Mythische ist ein Produkt der Nachträglichkeit und eine Weise der Voraussicht. Deshalb auch seine einfachste Definition: "Es war schon immer, es geschah noch nie."
Im persönlichen Bereich stellen die gelebten und phantasierten Privatmythen, aber auch der so genannte Familienroman des Neurotikers subjektive Umformungen und Verfälschungen individueller Lebensgeschichten dar, um sich vor der Bewusstwerdung unerträglicher Konflikte zu schützen. Dem entsprechend ist auf kollektiver Ebene der Mythos das Feld, auf dem eine Gemeinschaft ihre bewussten oder auch verdrängten Wünsche und Wahrheiten dennoch äußern kann. Man kann daher den Mythos auch als einen gesellschaftlichen Traum betrachten.
Abgesehen von den großen Mythologien vergangener Kulturen und Epochen, die teilweise noch immer gegenwartsbestimmend sind, kursieren in jeder Gesellschaft aktuelle und verbindliche Aussagen mit falscher Augenscheinlichkeit, die man als Mythen des Alltags bezeichnet.
Ein Alltagsmythos ist überall dort aufzugreifen, wo ein Sachverhalt von seinem Sinn und Wesen entfremdet wird und von pathetisch aufgeladenen Erscheinungen im Dienste einer Ideologie fortgetragen wird.
Vom Mythos eingefangen erhalten Sachverhalte und Begriffe eine mythische Aura, welcher sowohl die Ausdruckskraft des Erhabenen als auch des Erniedrigten zukommt.
Dem Mythos entgeht grundsätzlich nichts und daher kann alles zum Mythos werden:

  • der "Käfer" von VW
  • Einsteins Gehirn
  • das Zitronengras
  • Gustave Courbets "Ursprung der Welt"
  • Mohammeds Zahn
  • Madonnas Büstenhalter
  • Mozarts Kugeln.
Mozartkugeln: In ihrer französichen Form als "Boules de Mozart" und in ihrer englischen Fassung als "Mozart’s balls" offenbart sich unvermittelter als im Deutschen ihre obszöne Zweitbedeutung.
Fruchtbarer Mozart. Was liegt näher als der Wunsch, sich eine solche schöpferische Kraft einzuverleiben: Mozart essen, Mozart sein. Wer Mozart isst, ist Mozart.
Vornehmlich von hier aus eröffnet sich unter dem Namen eines wahrlich außergewöhnlichen Musikers und Komponisten ein weites mythisches Feld. Hier finden jene Ideologien reiche Nahrung, die sich schon immer am Phänomen des "homo artifex" und am Geheimnis menschlicher Kreativität errichtet haben.
Mozart: was für ein köstliches, süß-bitteres Sortiment aus jenem Ensemble von gedachten, gesagten und vergegenständlichten Phantasmen und Legenden, die den Topos des Genies stets zu begleiten pflegen.

Bei Mozart finden wir vor allem:
die Anbindung des Außerirdischen an das Irdische,
die Vereinigung sublimster Schaffenskraft mit der tiefsten Trivialität des Menschlichen und Allzumenschlichen,
die Inkarnation göttlicher Inspiration in die Körperlichkeit eines Auserwählten, dessen kindliche Unschuld sowohl die edelsten und zartesten Stimmen und Klänge als auch das fäkalste Idiom hervorzubringen vermag,
bei Mozart trifft man aber auch auf die Regungen von Neid und Eifersucht bei weniger erfolgreichen Konkurrenten angesichts einer so ungerechten Verteilung der Liebe Gottes,
und schließlich gibt der mozartsche Signifikant auch die Gelegenheit, den Mythos vom Wunderkind zu entzaubern und ihn als graue Pädagogik und als Drama des begabten Kindes darzustellen.

August Ruhs