I.
Ein Mann steht auf der Wiese und schaut mich neugierig an. Er kommt auf mich zu, zeigt mir stolz einen kleinen bunten Ball. „Das ist ein Gummiball“, sage ich erfreut. Ich nehme den Ball, lasse ihn auf dem Boden aufspringen, fange ihn wieder. Der Mann schaut mich entsetzt an, seine Augen füllen sich mit Tränen. Er reißt mir den Ball aus der Hand, läuft weinend davon. Ich bin ratlos. Minuten später sehe ich den Mann aus dem Zimmer der Krankenschwester kommen. Der Ball ist über und über mit Pflastern zugeklebt, der Mann hält ihn vorsichtig in einer Hand. Als er mich sieht, weicht er erschrocken zurück. „Du hast seinen liebsten Gegenstand zu Boden geworfen. Noch dazu mit voller Wucht“, klärt mich ein Betreuer später auf. „Jetzt ist der Ball verletzt und muss erst wieder gesund werden.“ Ich beginne zu begreifen. Wir haben viel zu lernen.
Am 1. Juli 1996 standen Robert F. Hammerstiel und ich am Kreuzbichlhof in Schön in Oberösterreich, in einer Einrichtung, die zum Institut Hartheim gehört. Über Vermittlung der Künstler Peter Assmann und Horst Jaritz waren wir gefragt worden, ob wir als Workshopleiter an Kreativwochen in Schön teilnehmen möchten. Robert F. Hammerstiel war für die Fotogruppe, ich für eine Text- und Schreibgruppe vorgesehen. Schon am ersten Tag bildeten wir eine gemeinsame Foto-Text-Gruppe, der Dialog in Wort und Bild schien uns besonders reizvoll. Eine anregende Zusammenarbeit begann, die wir später noch zwei Jahre für das Institut Hartheim und zehn Jahre lang in St. Pius weiterführen konnten. Begonnen hatte alles in Schön, bei den „Integrativ-Kreativ-Werktagen“. Für Robert und mich war es die erste Zusammenarbeit mit Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen. Es wurde eine Zeit des Lernens.
Rupert versteckte sich hinter meinem Rücken, sobald wir im Freien waren. Etwas beunruhigte ihn. Nach einem Blick in sein Schreibheft begriff ich. Er malte alle Blätter mit Insekten voll. Er hatte Angst vor ihnen, versuchte, sie aufs Papier zu bannen. Kein Wunder, dass er nicht im Freien fotografieren wollte. Kurt kam im Anzug zum Fotografieren und wollte nur noch „Bürgermeister“ genannt werden. („Bürgermeister sind immer schön angezogen“). Fritz konnte kaum gehen, aber er wurde innerhalb von Sekunden zum leichtfüßigen Tänzer, sobald er Musik hörte. Bald klang jeder Workshop mit Musik aus. Herbert schrieb seine Texte in einer Art Spirale, das Wichtigste stand im Inneren, war gleichsam der Kern, aus dem sich alle anderen Sätze langsam herausschälten. Sie umgaben den Kern wie ein dichtes Gestrüpp aus Buchstaben. Dass ein Bewohner laut die Kurve schimpfte, die ihn und seinen Roller zum Sturz gebracht hatte – es erschien mir nach einigen Tagen in Schön durchaus verständlich. Kurt, der Bürgermeister, hielt beim abschließenden Gruppenfoto ein selbst gemaltes Schild in die Kamera: „Ende von Schön“. Für uns war es ein Anfang, damals im Juli 1996.
Im ersten Jahr hatten wir mit Polaroids gearbeitet, mit Fotografien, die ein schnelles Ergebnis zeigen. Im zweiten Jahr entstanden Porträts in Lebensgröße, von Robert fotografiert, von den Porträtierten in einer improvisierten Dunkelkammer selbst entwickelt. Im dritten Jahr bohrten wir ein Loch in einen lebensgroßen Spiegel, eine Kamera wurde montiert. Mit einem Selbstauslöser in der Hand entstanden berührende Selbstporträts vor dem Spiegel. Ein Teilnehmer schloss die Augen, auf einem Bein stehend hob er langsam die Arme, bevor er abdrückte, ein stilles Schweben…
II.
Die Jahre in Schön/Hartheim waren Lehrjahre. Die Verunsicherung im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen war bald verschwunden, die Freude an der gemeinsamen künstlerischen Arbeit wurde immer größer. In St. Pius in Steegen/Peuerbach in Oberösterreich, einer Einrichtung der Caritas, fanden wir wunderbare Bedingungen, um diese Arbeit in einem kleinen Kreis fortzusetzen. Auch in St. Pius werden jährlich „Kreativwochen“ angeboten, mit Workshops für Bildhauer, mit einer Mal- und einer Musikgruppe. Wir übernahmen die Gruppe für Fotografie und Text. Bald blieb ein Kreis von sieben TeilnehmerInnen, der uns – von Jahr zu Jahr – vertrauter wurde. Ein intensives kontinuierliches Arbeiten mit den Medien Fotografie, Video und Text wurde so möglich, ein gemeinsames Erarbeiten von Themen und unterschiedlichen Arbeitsansätzen. Ob beim Versteckspiel mit Masken aus Papier oder bei Rollenspielen in einem Passbildautomaten, ob bei Porträts mit selbst gewählten Faschingskostümen oder bei fiktiven Reisen vor einer Wandtapete im Turnsaal – in Wort und Bild wurden private und öffentliche „Identitäten“ spielerisch in Frage gestellt, kam es zu humorvollen Selbstinszenierungen vor der Kamera.
Die vorliegenden Arbeiten verweisen auf faszinierende Persönlichkeiten, deren scheinbare „Defizite“ bei der künstlerischen Arbeit kein Thema waren. Im Gegenteil: Ihre Spontanität beim Umgang mit dem Material, ihre überschäumende Freude, ihre überraschenden Einfälle, ihr Humor machten jeden Workshop zu einem Erlebnis.
Wir haben in diesen zehn Jahren in St. Pius Menschen kennen gelernt, deren Blick auf die Welt immer wieder neu überrascht und nachdenklich macht – und deren Freundlichkeit und Herzlichkeit beschämt und beeindruckt.
Wir haben in diesen zehn Jahren in St. Pius viel gelernt. Als Künstler und als Menschen.
Und – das Staunen geht weiter.
Heinz Janish