Die Realität unter einem Präservativ

Ist die Kunst ein Mittel dafür, die Realität zu verändern oder sie zu verherrlichen? Ist sie ein Mittel dafür, das Leben zu schützen oder sich vor dem Leben zu schützen? Ist dies das entsprechende Mittel, um das Leben interessanter zu machen als die Kunst (Filliou) oder um die Kunst genauso real werden zu lassen wie das wahre Leben (Debord)? Das Wesen der Kunst zu erforschen, heißt, herauszufinden, was ihre Realität ist: welche Wirklichkeit entspricht der Kunst und wovon handelt sie?
Die Fotografien von Robert F. Hammerstiel sind von der fixen Idee getragen, diese Fragen beantworten zu wollen. Der intime Charakter der Fotografien bringt den Zusammenhang zwischen der Realität der Gegebenheit und der Realität der Kunst zum Ausdruck. Der Gleichmut und die Klarheit täuschen. Diese Bilder wirken wie friedliche Protokolle, Bestandsaufnahmen und Beschreibungen, obwohl sie in Wirklichkeit von der Dringlichkeit, dem Verlangen und dem Anspruch beherrscht sind, die Realität zu stabilisieren, auszustatten oder zu verewigen. Indem sie aus einem Objekt ein Bild herstellen, schützen diese Fotografien die Realität, denn sie entnehmen ihr lediglich eine Stichprobe und plastifizieren sie, jedoch ohne dabei verspotten oder parodieren zu wollen. Versucht man, diese Kultur der Kleinbürgerlichkeit zu verstehen, die künftig unsere Umgebung prägt, so beabsichtigt Hammerstiel offensichtlich nicht, sie aufzuladen oder zu verändern. Seine Fotografien versuchen, weder das Sujet zu verherrlichen, noch es auf Distanz zu halten – sie wollen es weder lächerlich machen, noch verändern. Sie streben lediglich danach, das Objekt, so wie es ist, aufzuzeigen, die Details der Dinge hervorzuheben, genauer gesagt, die "Aufmachung" des Objekts darzustellen. Wenn Hammerstiels Absicht darin liegt, zu bestätigen und für gültig zu erklären, dann ist es, weil seine Bilder Teil selbst sind der Objekte, die er fotografiert.
Die milchigen und opalartigen Fotografien aus der Reihe Out of the blue II zeigen – immer im selben Blickwinkel – leere Verpackungen. Sie sind "fast" genauso leer, transparent und plastifiziert wie die durchsichtigen Plastikverpackungen, die des Objekts beraubt sind, das sie umhüllten. Daß sie nur "beinahe" so leer sind, bedeutet, daß das Nichtvorhandensein von Farbe, die weißliche Opalartigkeit, die durch den transparenten Kunststoff reflektiert wird, das Fehlen des Objekts und die Leere der Verpackung die Fotografien "ausfüllen".
Das von der Verpackung befreite Objekt ist, in Hammerstiels vollständig mit Kunststoff ausgestatteten Welt, überall präsent. Als einziges Material ist der Kunststoff auch einziges Sujet und einziges Objekt seiner Fotografien. Die Kleider und Barbies Zubehör aus der Serie Make it up, meistens aus Plastik bestehendes Spielzeug, sind mit oder ohne ihren Plastikschutz in Bildern konserviert, versteinert und verewigt, und ist in einem Maßstab vergrößert, wie unter dem erbarmungslosen und exakten Mikroskop eines Gerichtsmediziners, Physikers oder Archäologen. Bei Barbies Plastikgesicht wird der Maßstab verhundertfacht, um eine eindrucksvolle und frivole Ikone einer Objektwelt zu schaffen, die vom Schauspiel und der Warenwelt beherrscht wird.
Hammerstiels Kunst sind Stichproben von Objekten ohne Qualität aus einer Welt ohne Qualität – trotzdem verbietet sie nicht zu träumen. Der Traum ist ein Bericht vom Schutz und der Wahrung von Distanz. Dreifacher Schutz, um das Objekt vom Leben fernzuhalten: Wahrung von Distanz durch die (industrielle) Produktion eines Kunststoffobjektes, das ein (vermutlich) reales Objekt reproduziert; Wahrung von Distanz durch den Plastikschutz dieser Massenreproduktion aus Kunststoff; schließlich die Wahrung von Distanz durch die fotografische Reproduktion der Reproduktion aus Plastik unter dem Kunststoffschutz.
Das Objekt ist überall und das lebendige Fleisch unentdeckbar. Verdrängt aus dieser Welt, worin sich der Körper und das Lebendige nicht aufhalten dürfen, muß das lebendige Fleisch auf Distanz gehalten werden: bedeckt, geschützt, mit Plastik umhüllt. Der unbelebte und milchige Schutz der Serie Out of the blue II erscheint als ein "Präservativ", das "vor" oder "nach" dem Geschlechtsverkehr betrachtet werden kann, jedoch nicht "während" des sexuellen Aktes, da "während" nicht stattgefunden hat. In dieser Zeitspanne, in der nichts passiert, bleibt die Spannung zwischen dem Schmutzigen, dem Harmlosen und dem Köstlichen ungelöst. Der Künstler führt uns diese parasitäre Welt vehement vor Augen und kreiert gleichzeitig neue Formen zeitgenössischer Schönheit.
Seitdem Charles Baudelaire die "Moderne" erfunden hat, indem er die Fähigkeit des Menschen definierte, die Transzendenz von der Immanenz zu unterscheiden, versucht der Künstler in der Tat das Universelle im Kurzlebigen zu entdecken und "das Erhabene im Alltäglichen" zu erkennen. Dies war für Baudelaire, den Maler der Moderne, "das, was die epische Seite aus dem Leben herausreißt und uns zu verstehen gibt – mit Hilfe von Farben und Zeichnungen – was an Edelmütigkeit und Poesie in unseren Krawatten und Lackstiefeln schlummert". Ein Jahrhundert später sagte André Malraux eigentlich nichts anderes, als er den Sinn der Kunst als Versuch definierte, den Menschen bewußt zu machen, welche ungeahnte Größe in ihnen steckt.

Jean-Michel Ribettes, Paris 1997